Nördliche Ringstraße 33

Ein „Herr in den besten Jahren“                                                                   

umgeben von drei eleganten jungen Männern, seinen Söhnen.

Arthur (ganz rechts) mit seinem Vater Samuel (sitzend)
und seinen Brüdern Bernhard und Julius

Das Foto wurde etwa 1910 aufgenommen und Samuel Fleischer konnte mit Stolz auf sein Leben zurückblicken: Seine Firma, die Korsettfabrik ‚Rosenthal, Fleischer & Co.‘, in dieser Form im Jahr 1887 gegründet, war ein erfolgreiches, expandierendes Unternehmen, dessen Produkte international prämiert wurden, Filial-Werke bestanden auch in London und Mailand. In Göppingen dürfte die Korsettfabrik ein ‚Musterbetrieb‘ gewesen sein: Helle Fabrikräume in einem modernen, 1890 entstandenen Bauwerk, umgeben von Gärten, die von den Betriebsangehörigen genutzt werden konnten. Zum Stolz des Samuel Fleischer gehörte sicher auch der Vaterstolz. Die Söhne, die ihm seine Frau Emilie, geb. Rosenthal schenkte, hießen Bernhard, Julius und Arthur, die Tochter hieß Paula und war seit 1903 mit Eugen Ries verheiratet, gehörte damit einer neuen Familie an.

Hochzeitsfoto Eugen und Paula Ries, geb Fleischer

Wie in Familienunternehmen üblich, sollten die Nachfolger im Unternehmen aus der Familie stammen. Samuel Fleischers ältester Sohn Bernhard hatte zu dieser Zeit freilich schon einen anderen Berufsweg eingeschlagen. Nach dem Jurastudium hatte er sich 1907 in Stuttgart als Rechtsanwalt nieder gelassen. Aber da waren ja noch die jüngeren Brüder Julius und Arthur. Tatsächlich sollten beide nach Samuels Tod im Jahr 1920 die Geschäftsleitung übernehmen – dem Vater zuliebe? – aus Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern und deren Arbeitsplätzen? Von Julius, dem mittlerem Bruder weiß man, dass er lieber Medizin studiert hätte, später sollte Heilen seine Berufung werden. Und Arthur? Seine Tochter Hanna wird viele Jahre später ‚Schriftsteller‘ in die Spalte ‚Beruf‘ des Erinnerungsblatts von Yad Vashem eintragen.                            

Arthur und Julius Fleischer waren gleich gestellte Gesellschafter in der Firma. Wie viel Gemeinsamkeit gab es zwischen den Brüdern? Hanna Herschbaum, die älteste Tochter von Paula und Arthur Fleischer schreibt dazu: „Arthur und Julius Fleischer waren sich nicht ähnlich. Mein Vater leitete die Fabrik. Er interessierte sich für Geschichte und Literatur, nicht für Politik. Wir hatten in Göppingen ein offenes Haus und Besuche vom Ausland kamen geschäftlich zu uns. Der beste Freund meines Vaters war Carl Veit, der Besitzer einer Filztuchfabrik in Göppingen.“

Existenzsorgen

Als Samuel Fleischer 1920 starb, hatte sich die politische, ökonomische und kulturelle Situation grundlegend geändert. Abgesehen vom wirtschaftlichen Zusammenbruch nach dem Ersten Weltkrieg war das Unternehmen speziell vom Modewandel betroffen.

Korsetts waren in der jungen Mode verpönt, das Kernprodukt der Firma ließ sich immer weniger verkaufen. Die Geschäftsführung versuchte sich dem Markt anzupassen, bot eine Kollektion von Nachtwäsche an und spezialisierte sich auf orthopädische Korsetts, doch der Niedergang der Firma ließ sich damit nur verlangsamen. 1928 wurden die Fabrikgebäude (heute das Technische Rathaus) sowie das Wohnhaus Nordring 33 an die Stadt Göppingen verkauft, die Produktion lief allerdings in kleinerem Umfang weiter und der Familie war ein Wohnrecht im Wohnhaus vertraglich zugesichert worden, worüber der Nazi – Bürgermeister Pack 1935 sich aber hinwegsetzen sollte. Samuel Fleischers Witwe Emilie, damals 77 Jahre alt und erblindet, ihre Tochter Paula Ries und deren Tochter Erika wurden Opfer dieses rücksichtslosen Rechtsbruchs und mussten das Haus verlassen.

Paula und Arthur Fleischer 1915

Die junge Familie                    

Zunächst aber dürften Arthur Fleischer und seine Familie mit der ursprünglichen Regelung zufrieden gewesen sein, denn erst vor einigen Jahren waren Paula und Arthur Fleischer mit ihren Kindern Erwin, Eva und Hanna in das repräsentative Haus eingezogen. Von ungetrübtem Familienglück darf man aber nicht ausgehen, denn 1926 war der Sohn Franz Bernhard 11- jährig an einer Mittelohrentzündung gestorben. Franz war das erste Kind des Ehepaars, das 1913 in Straßburg geheiratet hatte, der Stadt, wo Paula, geborene Hammel auch aufgewachsen war. Im Jahr 1916 wurde in Göppingen die Tochter Hanna geboren, die zweite Tochter, Eva folgte im Jahr 1920 und das jüngste Kind, Erwin wurde 1923 geboren.   

v. l. Erwin, Eva, Hannah und Franz Fleischer 1926

Paula – Eine engagierte Zionistin

Paula, übrigens eine Cousine von Arthur, war eine gebildete junge Frau und schon früh für den Zionismus begeistert, ein Engagement, das, wie ihre Kinder Erwin und Hanna erinnern, ihr Leben lang anhielt. Vor ihrer Ehe war sie zumindest ein Mal Gast beim Zionistischen Kongress in Basel. In Göppingen war sie damit innerhalb der ‚alten‘ Göppinger jüdischen Familien eine Ausnahme. Die meisten aus ihren Kreisen verstanden sich als Deutsche jüdischen Glaubens und neigten zum politischen Liberalismus. Zionistische Überzeugungen fanden sich sonst eher in jüdischen Familien, die aus Osteuropa zugewandert waren oder bei Angehörigen der jüngeren Generation.

Wegzug nach Paris

Bei der Aussage in Frau Herschbaums Erinnerung überrascht, dass sich ihr Vater nicht für Politik interessiert haben soll. Schon 1931 traf die Familie nämlich eine Entscheidung, die auf besondere politische Hellsichtigkeit schließen lässt: Paula und Arthur Fleischer verließen Deutschland und zogen nach Paris. Zu diesem Schritt gab es freilich einen konkreten Anlass. Frau Herschbaum schreibt: „Mein Vater bekam schon 1931 einen Drohbrief, den ich gesehen habe, vom Sohn eines Fabrikangestellten, den Namen weiß ich nicht. Wörtlich schrieb er: ‚Herr Fleischer, wenn die Nazis ans Ruder kommen, wird es Ihnen schlecht ergehen.‘ Der Brief war mit Hakenkreuzen eingerahmt. Meine Mutter hat ihn zerrissen (leider).“ 

v.l. Eva, Paula & Hannah Fleischer ca.1930 in Göppingen

Offiziell verlegte das Ehepaar im Mai 1932 seinen Wohnsitz nach Paris. Die Kinder Erwin und Eva blieben zunächst bei der Großmutter in Göppingen und kamen später in einem Kinderheim in Großherrischwand / Schwarzwald unter, das vom anthroposophischen Ehepaar Ehmann geführt wurde. Zu dieser Zeit waren die meisten der Internatskinder jüdischer Herkunft und das Ehepaar Ehmann sollte seine aufrechte Haltung auch in Zukunft beweisen, indem sie Juden vor den Nazis versteckten. Dort in Großherrischwand habe er die schönste Zeit seines Lebens verbracht, erinnerte sich Erwin Fleischer. Seine älteste Schwester Hanna besuchte während dieser Zeit ein Mädchenpensionat in Straßburg. Erst im Mai 1933 verließen auch Eva und Erwin das bedrohlich gewordene Deutschland und zogen zu ihren Eltern.

hinten: Erwin und Eva Fleischer im Heim Großherrischwand

Arthur Fleischer als Kulturmensch

Es fiel der Familie in Frankreich nicht leicht, Fuß zu fassen und ohne den finanziellen Grundstock, der vom Verkauf der Göppinger Immobilien stammte, wäre das Leben kaum möglich gewesen. Jahrelang lebten die Fleischers im Hotel, Arthur verdiente als Vertreter von Bekleidungs-Artikeln und mit Übersetzungen etwas dazu.

Arthur und Eva Fleischer ca. 1933 in Paris

Es blieb aber nicht beim puren Übersetzen: Schon vom Mai 1931 datiert ein Beleg für Arthurs kulturelles Wirken in Frankreich. Die Kunsthistorikerin Dr. Dorothee Hoppe fand einen Brief, den Arthur am 6. Mai an den Frankfurter Künstler und Kunstsammler John Elsas richtete. Hintergrund war, dass Arthur Fleischer ihm behilflich sein wollte, eine Ausstellung in Paris zu organisieren. Aus Arthurs Hand stammt auch ein Text, der John Elsas Kunstschaffen zum Thema hat. Darin scheint sich auch eine (bisher nicht ausgelebte?) Begabung Arthurs auf: Die Schriftstellerei. Zusammen mit dem Franzosen Etienne Gril verfasste er auf Französisch zwei Romane, weitere Bücher waren geplant. Arthurs Autorenschaft wurde auch in Göppingen registriert. Das in Stuttgart erscheinende ‚Israelitischen Wochenblatt‘ vom 16.1.1936 berichtete:

„Vor kurzem erschien in Paris der Roman ‚La Solitude à Paris‘ von Etienne Gril und Arthur Fleischer (Editions Pierre Gara), der zum Teil in Stuttgart, zum Teil in Paris spielt und in unterhaltsamer Weise das Schicksal einer jungen Stuttgarterin schildert, die nach mancherlei Missgeschick sich endlich in Paris einlebt. Arthur Fleischer ist ein gebürtiger Göppinger und dürfte  bei seinen vielen Freunden noch in bester Erinnerung sein.“

Etiennes Grils Sohn Jacques wurde übrigens später der Ehemann von Arthurs Tochter Eva.

Zum Familieneinkommen beitragen konnte auch die älteste Tochter Hanna, die als Kinderbetreuerin und später als Verkäuferin arbeitete – jeweils abhängig von Arbeitserlaubnissen und einige Jahre später wurde der junge Erwin sogar zeitweilig zum Hauptverdiener.

Ein ‚Feindlicher Ausländer‘?

1940, mit Beginn des deutschen Kriegs gegen Frankreich, verschlechterte sich die Lage für die Familie. Als Deutsche galten sie pauschal als „feindliche Ausländer“ und so wurden Paula, Hanna und Eva für 3 Monate im Lager von Gurs interniert, nur Erwin entging als erst 17 jähriger diesem Schicksal und konnte später sogar eine Berufsausbildung absolvieren. Auch Arthur Fleischer wurde zwei Mal interniert, später aber in eine ‚Compagnie des Travailleurs Etranger‘ aufgenommen. In dieser staatlichen Organisation dienten Ausländer, die zu alt waren, um in die französische Armee eintreten zu können, wobei zu Arthurs Abteilung viele Juden aus Deutschland gehörten. Stationiert war diese Einheit in der Nähe der südfranzösischen Stadt Montauban, südwestlich von Toulouse, wohin auch die anderen Familienmitglieder nach dem Ende ihrer Internierung übersiedelten.

Arthur Fleischer fand eine neue Aufgabe als Geschichtslehrer in einem Heim für jüdische Kinder. Unter der Vichy – Regierung musste die Familie ihre Ausweise mit einem roten ‚Juden‘ – Stempel versehen lassen und mit den Jahren wuchs der Druck der Nazis auf die Vichy-Regierung. Diese war ihrerseits auch zunehmend bereit, deutsche Flüchtlinge auszuliefern. Hanna und Eva und Erwin bemühten sich deshalb (mit Erfolg) um falsche Ausweise. In dieser bedrohlichen Zeit, im Jahr 1942 erkrankte Paula Fleischer an Tuberkulose und musste eine Lungenheilanstalt aufsuchen.

Der Verrat, die Verzweiflung

Im Frühjahr 1943 suchte Arthur Fleischer, der inzwischen in einem Nachbarort wohnte, wegen einer Aufenthaltssache die Polizeistation von Montauban auf. Erwin Fleischer erinnert sich, dass sein Vater den Polizeichef persönlich kannte und ihm und seiner schützenden Hand vertrauen konnte. Zu Arthurs Überraschung war sein Bekannter aber abgelöst worden und der neue Amtsinhaber erwies sich als ein williger Vollstrecker der Nazi – Deutschen. Arthur Fleischer wurde verhaftet und in das Lager Drancy nördlich von Paris gebracht. Etienne Gril versuchte seinen Freund zu retten, als Vertreter des Schriftstellerverbands bemühte er sich bei Regierungsstellen um einen gesicherten Aufenthaltstatus und entsprechende Papiere – vergebens! Arthur Fleischer wurde am sechsten März 1943 von Drancy aus ins besetzte Polen deportiert und wahrscheinlich in Majdanek ermordet.

Arthur Fleischer, letztes Foto

Auch Paula Fleischer musste die Auslieferung an die Nazis befürchten. Zu ihrer Sicherheit wurde sie unter einem anderen Namen in ein zweites Sanatorium verlegt, wo sie das Ende der Nazi – Zeit noch erlebte. Ihre Tochter Hanna Herschbaum schreibt zum Schicksal ihrer Mutter: „Sie starb an Folge von TBC (Tuberkulose) und Depression über das Schicksal ihres Mannes am 7.7.1945 in einem Krankenhaus in der Nähe von Lyon.“

Widerstand und Flucht

Die Kinder der Familie überlebten mit Glück und Mut die bedrohliche Zeit. Erwin, der sogar noch eine Ausbildung zum Techniker beenden konnte, schloss sich im Mai 1944 unter dem Eindruck des Massakers von Oradur der Widerstandsgruppe ‚Armee Juive‘ an. Mit Kampfgenossen floh er nach Spanien auf ein portugiesisches Schiff, das von jüdischen Flüchtlingsorganisationen organisiert worden war. 500 jüdische Flüchtlinge gingen an Bord, darunter 80 Kinder, für deren Betreuung der erst 17-jährige Erwin Fleischer verantwortlich war. Ziel war Palästina, wo Erwin Fleischer im November 1944 eintraf und später seinen Vornamen in ‚Ehut‘ änderte. Unvergesslich ist ihm, wie er und seine Reisegefährten von Golda Meir und Davin Ben Gurion in Haifa begrüßt wurden.

Erwins Schwester Eva war in der Résistance aktiv, ihr Tarnname war Jacqueline Brusset. Wie erwähnt heiratete sie Jacques Gril, den Sohn des Schriftsteller – Kollegen ihres Vaters. Eva Gril, die 1975 verstarb, blieb in Frankreich, wo ihre drei Söhne auch heute noch leben.

Jacques und Eva Gril geb. Fleischer, Paris 1946

Hanna, die ältere Schwester, lernte in Montauban Max Herschbaum kennen, einen Juden, der aus der Ukraine stammte. Das Ehepaar wohnte bis zu Max Herschbaums Tod in Frankreich, als Witwe zog Hanna nach Israel, wo auch ihr Bruder Erwin/Ehut Fleischer wohnte. Erwin/Ehut hatte in Israel die aus Wiesbaden stammende Hanna Knecht geheiratet. Das Paar konnte sich über drei Töchter freuen. Sie sowie Enkel und Urenkel leben in Israel. Sowohl Hanna Herschbaum wie auch ihr Bruder Erwin/Ehut starben hochbetagt im Jahr 2018.

Max und Hanna Herschbaum (geb. Fleischer)
Erwin und Hanna Fleischer, geb. Knecht

Weitere Mordopfer in der Familie

Zurück zum Foto von 1910. Alle drei Fleischer – Brüder sind von den Nazis ermordet worden, ebenso Julius Ehefrau Irma. Zu den Opfern der deutschen Nazis gehören auch Arthurs Cousinen Rosa Fleischer, Emilie Goldstein und Pauline Guggenheim.

Noch kein Stolperstein liegt für Arthurs ältesten Bruder Bernhard, der als Jurist in Stuttgart lebte und arbeitete. Im Juli 1942 wurde er ins KZ Buchenwald eingeliefert und dort am 17. September des Jahrs ermordet.

Bernhard Fleischer

Die Schwester von Paula Fleischer, Martha Albert, geb. Hammel, von Beruf Lehrerin, lebte ab 1921 auch in Göppingen. Hier heiratete sie im Jahr 1923 den Kaufmann Julius Albert. Nach der Eheschließung zog das Paar in Julius Heimatstadt Saarbrücken, wo sie ein Ledergeschäft betrieben. Sie verließen Saarbrücken im Jahr. 1935 und zogen mit ihrer 1925 geborenen Tochter Friederike Jeannette in die Nähe von Paris. Im Juli 1942 wurde die Familie zunächst in der Pariser Radsportarena ‚Velodrom d`hiver‘ interniert. Vom Abschiebelager Drancy bei Paris wurde die Familie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Wir danken herzlich Frau Hanna Herschbaum (t), Herrn Ehut Fleischer (t), Frau Tzipi Litvak sowie Herrn Denis Gril für die wertvollen Informationen und Fotos aus den Familienbeständen.  

Zur Erinnerung an Arthur und Paula Fleischer setzte Gunter Demnig am 1. Mai 2010 in Anwesenheit des Sohns Erwin / Ehut Fleischer und seiner Tochter Yael Noiman, der Nichte Erela Tamri, geb. Erika Ries sowie weiterer Familienangehöriger die Stolpersteine vor dem Haus Nordring 33.

Erwin (Ehut) Fleischer und seine Tochter Yael Noiman
in Göppingen 2010
Arthurs Nichte Erela Tamri (geborene Erika Ries) in Göppingen 2010
Verlegung der Stolpersteine am Haus Nördliche Ringstr. 33

(27.08.2018 kmr)