gegen das Vergessen

Kuhnle, Kurt

Vordere Karlstraße 12

Als Schüler verletzt er sich, trägt bleibende Schäden davon, wird deshalb vergast. Ein Stolperstein erinnert an Kurt Kuhnle.

„Damit er nicht vergessen wird!“ Gerd Kuhnle ist bewegt, als er Rosen am Stolperstein für seinen Onkel Kurt niederlegt. Nichts erinnert mehr an das Häuschen, in dem der mit seinen Eltern und Geschwistern am Ende der Vorderen Karlstraße in Göppingen lebte. Heute steht dort ein mächtiges Bürogebäude. Erst vor wenigen Jahren erfuhr Gerd Kuhnle vom Schicksal seines Onkels. „Mein Vater hatte immer erzählt, seine drei Brüder seien im Krieg gefallen. Erst kurz vor seinem 90. Geburtstag erzählte er, was wirklich passiert war“ und bat seinen Sohn, Nachforschungen anzustellen. Gerd Kuhnle wurde schnell klar, dass sein Onkel Kurt ein anderes Schicksal hatte als seine jüngeren Brüder Erwin und Ernst, die im 2. Weltkrieg als Soldaten starben.

Gerd Kuhnle nahm Kontakt mit der Göppinger Stolperstein-Initiative auf. Denn Kurt Kuhnle war Opfer der menschenverachtenden „Aktion T 4“ geworden. „T 4“ stand für die Tiergartenstraße vier in Berlin, der Ort, wo der der planmäßige Mord tausender Menschen organisiert worden war, die nach der Lesart der Nazis „lebensunwert“ waren, also psychisch krank oder behindert und deshalb auf Unterstützung des sogenannten „gesunden Volkskörpers“ angewiesen waren. Auch in Göppingen waren davon 293 Menschen betroffen als Patienten des Klinikums Christophsbads. Wer den Aufenthalt privat bezahlen konnte, hatte eine Überlebenschance. Die „Staatszöglinge“, für die das Land Württemberg aufkam, nicht. Sie wurden aus den privaten Kliniken in öffentliche Heilanstalten verlegt und von dort deportiert. Auch in die Mordanstalt Grafeneck bei Münsingen. „Ich hoffe, er musste nicht lange leiden“, sagt Gerd Kuhnle. Weiß er doch, dass die ersten Opfer mit Autoabgasen vergiftet worden waren.

Kurt Kuhnle, der 1910 im thüringischen Schleiz geboren wurde, hatte zunächst ein unauffälliges Leben geführt. Seine Eltern, Ernst und Helene, geb. Völkel zogen ca. 1911 zusammen mit seiner älteren Schwester Hedwig von Schleiz nach Göppingen. Ernst Kuhnle hatte als Flaschner, Schlosser und Metalldrücker Mühe, genug Geld zum Lebensunterhalt seiner insgesamt sieben Kinder zu erwirtschaften. Dabei muss er ein talentierter Handwerker gewesen sein, denn er baute für die Firma Märklin eine Musterlokomotive.

Familie Kuhnle

Das kleine, der Stadt Göppingen gehörende Häuschen am Ende der Vorderen Karlstraße bot wenig Komfort für die Familie. Auf dem Familienfoto, das etwa aus dem Jahr 1924 stammt, sticht Kurt heraus: als einziger steht er in der Reihe mit seinen Eltern und anders als sein jüngerer Bruder Erwin trägt er einen ‚erwachsenen‘ Anzug. Vielleicht war er der ‚Hoffnungsträger‘ der Familie, er war wohl ein kluges Köpfchen und erhielt eine Freistelle am Gymnasium.

Ehrenurkunde der Reichsjugendkämpfe

Auch im Sport war Kurt ein ‚Siegertyp‘: Eine Ehrenurkunde aus dem Jahr 1922 bestätigt, dass der damals 12-jährige im ‚Dreikampf Klasse I den Sieg bei den Reichsjugendkämpfen in Göppingen errungen hatte. Der Sport sollte aber auch in schlimmer Weise sein künftiges Leben bestimmen: Bei einem Sportunfall mit dem Sportgerät ‚Röhnrad‘ zog er sich eine schwere Kopfverletzung zu, die zu epileptischen Anfällen führte. Der Zeitpunkt dieses Unfalls ist aus der Familienerinnerung nicht mehr zu bestimmen aber es ist wahrscheinlich, dass damit auch sein Besuch am Gymnasium endete. Kurts Psyche hatte Schaden genommen, laut der Familienerinnerung verhielt er sich zeitweise ‚„bösartig“.

Kurt Kuhnle im Alter von 14 Jahren

Vom 6. Mai 1925 bis zum 20. 10. 1926 arbeitete Kurt Kuhnle in der nahegelegenen Firma Gutmann als Weber. Gerd Kuhnle kann aus der Familienerinnerung ergänzen: „ Der Lärm der Webstühle hat ihn vollends krank gemacht“. Kurt konnte nicht mehr zu Hause wohnen und wurde am 24. November 1926, also kurz nach seinem 16. Geburtstag in die Göppinger Privatheilanstalt Christophsbad eingewiesen, wo er bis zum Juni 1940 lebte. Von dort wurde er am 26.06.1940 in die Staatliche Heil- und Pflegeanstalt Weißenau bei Ravensburg verbracht, danach, am 5. Dezember 1940 nach Grafeneck deportiert und vermutlich am Nikolaustag 1940 im Gas ermordet.

Kurt Kuhnle (Quelle: „Das Christophsbad Göppingen“)

Weshalb Gerd Kuhnles zwischenzeitlich verstorbener Vater Willi, Kurts jüngster Bruder, so lange geschwiegen hatte, kann Gerd Kuhnle nicht sagen. „Vielleicht hat er sich für seinen Bruder geschämt. Aber schämen müssen sich ganz andere.“ Gemeinsam mit seinem Vater hatte Gerd Kuhnle die Gedenkstätte in Grafeneck besucht und ist jetzt froh, dass er seinem Onkel ein Erinnerungsmal setzen konnte. Er mahnt zur Wachsamkeit. „Wehret den Anfängen“, fordert er angesichts nazistischer Übergriffe auf die Gesellschaft.

Der Stolperstein für Kurt Kuhnle wurde genau 80 Jahre nach seiner Ermordung verlegt. Man findet ihn auf dem Fußgängerweg, der zur Bahnbrücke führt, also oberhalb der Stelle, wo Kurts Wohnhaus Vordere Karlsstraße 12 gestanden hatte.

Gerd Kuhnle bei der Verlegung des Stolpersteines für seinen Onkel

In der Publikation „Die Aktion T 4 und die Heilanstalt Christophsbad in Göppingen“ hat das Stadtarchiv Göppingen „Die Vernichtung lebensunwerten Lebens in den Jahren 1940/ 41“ (Untertitel) dokumentiert. Sie ist im Stadtarchiv und Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-933844-65-1). Weitere Informationen auch in: Daniel Hildwein / Thomas Stöckle: Das Christophsbad Göppingen. Eugenik und NS -„Euthanasie“ 1933 bis 1945. Göppingen 2023.

(08.12.2020, mh / kmr)


1 Kommentar

  1. Günther Pfeiffer

    Meinem Onkel ist ein ähnliches Schicksal widerfahren. Er war Jahrgang 1911, ist in Göppingen geboren und aufgewachsen. Bei Fa. Böhringer hat er eine Lehre als Maschinenschlosser absolviert. Von meinem Vater weiß ich lediglich, dass sein 9 Jahre älterer Bruder nach einem Unfall an Epilepsie erkrankt ist. Wie meine zwischenzeitlichen Nachforschungen ergeben haben, wurde mein Onkel 1932 in die Heilanstalt Weißenau stationär eingewiesen. Am 27.05.1940 wurde er ebenfalls nach Grafeneck „verlegt“, wo er am selben Tag noch vergast wurde. Mein Vater war wie seine drei Brüder bereits Soldat und hat irgendwo im Feld von seiner bereits verwitweten Mutter die Nachricht erhalten, dass sein Bruder laut einer schriftlichen Benachrichtigung an einer Lungenentzündung verstorben sei. Er hat mir gegenüber stets den Verdacht geäußert, dass sein Bruder ein Opfer der Euthanasie war. Mein Vater ist bereits 1978 verstorben und irgendwie ist damit auch das Schicksals meines Onkels in Vergessenheit geraten. Erst seit ein paar Monaten versuche ich, mehr über meinen Onkel zu erfahren und konnte schon einige Erkenntnisse gewinnen. Derzeit läuft mein Antrag auf Bereitstellung von Kopien der Weißenauer Patientenakte meines Onkels , die beim Bundesarchiv in Berlin offensichtl. vorliegt. Ich werde mich mit der Initiative Stolpersteine Göppingen demnächst in Verbindung setzen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert